Unerwarteter Neuanfang


Ihm schwindelt. Er muss sich am Fensterrahmen festhalten, kurz berühren seine Fingerspitzen das kühle Glas. Die Luft draussen ist voller Schnee. Sein Antlitz spiegelt sich im hohen Fenster. Er sieht die Härte seiner Gesichtszüge, die bleiche Haut und die Müdigkeit in seinen Augen. Obwohl er es sich noch nicht richtig eingestehen kann, weiss er, dass das Leben, das er bis jetzt gelebt hat, vorbei ist.

Wieder geht ein Raunen der Menschenmasse durch die grosse Halle. Alle Augen sind auf die Anzeigetafeln gerichtet, auf denen noch mehr rote Balken aufleuchten.

Nur seine Augen nicht. Sie blicken starr nach draussen, erfüllt von Tränen. Sein Leben wird nicht zu dem führen, was Joshua Eden sich gewünscht hat. Sein schlimmster Albtraum ist greifbar und real geworden.

Als der Schwindel ein wenig nachlässt, geht er mit kleinen Schritten zu einer nahe gelegenen Wand, lehnt mit dem Rücken dagegen und gleitet langsam zu Boden. Da ist es wieder, dieses Stechen im Herzen, das er in den letzten Tagen und Wochen schon öfter wahrgenommen hat. Aber dieses Mal ist es anders, bestimmter, fordernder.

Joshua Eden will in der Firma ganz nach oben. Reist von Kunde zu Kunde und erledigt seine Arbeit mit Entschlossenheit und Ausdauer. Der Druck ist hoch, die Geschwindigkeit enorm, er muss immer hellwach sein, um schnelle Entscheidungen zu treffen. Ist er zu langsam, ist das Geschäft bei der Konkurrenz oder übersieht er etwas, verliert die Firma Geld.

Jetzt sitzt Joshua Eden auf dem kahlen Fussboden einer Abflughalle. Das laute Rufen und die geschäftige Betriebsamkeit lassen sein Inneres aber unberührt. Ihn ihm ist Stille, eine Stille, die auch eine Leere ist. Da ist kein Aufbegehren, kein gewaltsamer Wille mehr, den drohenden Zusammenbruch aufhalten zu wollen, der unweigerlich auch seinen langersehnten Traum mit in den Abgrund reissen wird.

Mit einer langsamen Bewegung, die etwas Endliches in sich trägt, greift er mit der rechten Hand an sein Herz. In mir ist es eng geworden; und ganz gleich, was ich tue, ich komme nicht zu meinem Ziel, das zu erreichen ich alle Zeit und Energie investiert habe.

Gestrandet mit Hunderten anderen auf einem fernen Flughafen, gesteht er sich mit rücksichtsloser Ehrlichkeit ein, dass sein Traum, ja sein Leben mit knapp dreissig Jahren gescheitert ist. Und genau in diesem Moment spürt Joshua Eden durch alle Verzweiflung hindurch eine Erleichterung. Sein erbitterter Kampf gegen das unaufhaltsame Ticken der Zeit ist gebrochen und verloren.

 

*****

 

Joshua Eden läuft barfuss über eine Anhöhe hinauf der Abenddämmerung entgegen.

Zeit ist kostbar, und deshalb muss sie um jeden Preis genutzt werden. Vor ein paar Monaten war das meine klare und unantastbare Devise. Mein Terminkalender war voll, und bei jeder noch so kleinen Lücke stellte ich mir die Frage: «Was könnte da noch reinpassen?»

Aber trotz genau geplantem Zeitmanagement und streng durchdachter Selbstorganisation nahmen Termine zu, und in immer kürzerer Zeit waren Dinge zu erledigen. So wurde mein Leben zusehends fremdbestimmt. Die permanente Beschleunigung wurde zum unerbittlichen Wettlauf gegen die Zeit. Gefangen im zerstörerischen Kreislauf, verlor ich nach und nach die Kontrolle über mein Leben und war in einer Erledigungslähmung eingefroren.

Joshua Eden ist auf der kleinen Anhöhe angekommen. Die Sonne ist mittlerweile schon verschwunden und färbt den Himmel in ein feines Rosa, das weiter oben in ein dunkles Blau läuft und in einem blassen Schwarz endet, in dem schon die ersten Sterne aufleuchten.

Auf dem nackten Boden der Abflughalle musste ich mir unbequeme Fragen stellen:

 

«Wie weiter?»

«Was soll aus meinem Leben jetzt werden?»

«Wo noch Sinn sehen, wenn der grosse Lebenstraum geplatzt und begraben ist?»

 

Es war nicht so, dass ich damals einen Herzinfarkt gehabt hätte; es fühlte sich vielmehr an wie ein Seeleninfarkt. Denn da ist ein enger Zusammenhang zwischen Hektik, Druck und Rastlosigkeit auf der einen Seite und einer wachsenden Selbstentfremdung und verlorenem Lebenssinn auf der anderen Seite – einem Gefühl, längst nicht mehr der zu sein, der ich sein wollte, und das zu tun, was ich gern tun würde. Und der Wucht dieser brennenden Sehnsucht nach Echtheit und Selbstbestimmtheit konnte ich nicht mehr standhalten.

Auf der grasbewachsenen Anhöhe stehen einzelne Bäume, und dazwischen liegen grosse Felsblöcke. Joshua Eden setzt sich auf den Boden, lehnt sich an einen der grossen Steine und spürt die Wärme der Sonne, die noch in dem Stein eingeschlossen ist. Gedankenverloren sieht er mit offenem und weitem Blick über die Landschaft. Im nahe gelegenen See beginnt sich glitzernd der silbrige Mond zu spiegeln.

Heute, viele Monate später, lebt Joshua Eden nach einer neuen, nach einer anderen Devise:

Weniger Arbeit – weniger Einkommen – weniger Konsum = mehr Lebensfreude und Lebenszeit.

So einfach die Formel klingt, so schwierig war es für ihn, das alte Leben loszulassen, dem Sog vom harten Geld und kalten Konsum nicht weiterhin blind zu folgen. Denn ist ein Ziel erreicht, tut sich schon ein weiteres auf. Ist ein Wunsch erfüllt, drängt sich bald ein neuer vor.

 

Wann kommt der Moment, wo der Mensch sagen kann: «Ich habe genug»?

Wann kommt der Moment, wo der Mensch geniessen kann, was er hat?

 

Und wer kann schon sagen, ob am Ende eines hart umkämpften Weges das ersehnte Glück auf einen wartet? Durch mein unablässiges Streben nach Erfolg und Image war ich seelisch fast erstickt. Langsam beginne ich wieder frei zu atmen. Es ist wie ein Heimkommen aus dem Dunkel der Nacht.

Geholfen haben mir Werte, die in Shiny City immer weniger Gewicht in sich tragen:

Bescheidenheit; Verzicht und Weglassen von Überflüssigem, Gelassenheit; ein Leben in innerer Ruhe und emotionaler Ausgeglichenheit, Dankbarkeit für das, was ich erlebe, und für das, was ich habe; Demut; Achtsamkeit, um die eigenen Fähigkeiten zu erkennen und zu leben, aber vor allem die Bereitschaft, meine Grenzen wahrzunehmen und zu akzeptieren.

 

Ich muss nicht alles können – ich muss nicht alles wissen – ich muss nicht alles tun und erleben.

Daraus ist ein neues Lebensgefühl gewachsen: ein Gefühl der Lebendigkeit und Lebenslust.

 


 

Felipe VasQues - Januar 2021

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