Die Eisenfresser


Ein Mann mit ausgezehrtem Körper hält eine Zigarette mit vertrocknetem Tabak zwischen den blutleeren Lippen. Mit hinkendem Gang geht er über einen fernen Strand. Aber von einer paradiesischen Idylle kann keine Rede sein. Es stinkt, und die Luft sticht in seinen Lungen. Vom einst weissen Sandstrand mit den vielen grünen Palmen ist nichts mehr zu sehen. Stahl, Dreck, Feuer und öliger Schlamm dominieren die Szenerie, alles in dunklen Rauch gehüllt. Wie hässliche Grabmäler reiht sich ein ausgeschlachtetes Schiff neben das andere. Die schweren Schatten von Hunderten Wracks fallen bedrohlich auf die wenigen Menschen, die dazwischen klein und verloren wirken.

Nur mit Sandalen an den Füssen geht der Mann über den Schrottplatz und weicht riesigen Schiffsschrauben und wuchtigen Zahnrädern, nackten Stahlträgern und scharfkantigen Stahlplatten aus. Eine Menschenschlange geht still an ihm vorbei. Nur ein Stöhnen und Ächzen ist dann und wann zu hören. Sie tragen ein langes, dickes Stahlteil auf den Schultern. Nur einfache Lederlappen dienen ihren geschundenen Händen als Schutz vor den scharfen Kanten.

Neben einem Dieselmotor, so gross wie ein Einfamilienhaus, steht eine Gruppe Männer. Keiner achtet auf ihn, als er sich zu ihnen stellt. Sie alle starren teilnahmslos auf ein halb ausgeweidetes Schiff, das sich wie ein Mahnmal vor ihnen aufbaut.

Oben auf dem Deck sind Männer zu sehen, die mit langen Stangen hantieren. Mit einem Mal ist ein metallisches Kreischen zu hören, begleitet von einem dumpfen Knall. Ein Teil des Schiffes neigt sich zur Seite und stürzt in die Tiefe. Dreckiges Wasser schiesst in die Höhe. Von der oberen Hälfte des ausgeweideten Schiffes ergiesst sich ein dicker Strahl Öl ins Meer.

 

Bei Springflut werden Schiffe mit voller Kraft an den Strand gefahren, wo sie liegen bleiben. Bis zu fünfundneunzig Stunden die Woche schuften dann Männer mit kaum geschützten Körpern zwischen Feuer und Rauch. Eingeteilt in Seilzieher, Plattenträger oder Schweisser, zerlegen sie die Schiffe, die die zivilisierte und aufgeklärte Welt nicht mehr braucht. Aber an diesem apokalyptischen Ort sucht man vergebens nach Kränen oder schwerem Gerät. Hier herrscht ein Kampf mit blossen Händen gegen den unnachgiebigen Stahl. Viele der Arbeiter lebten einst von der Landwirtschaft, die bringt aber immer weniger ein, und so bleibt ihnen nur ein Leben als Eisenfresser, wie sie sich selbst nennen.

 

Ein Mann mit hochrotem Kopf tritt vor die versammelte Schar. Mit lauter werdender Stimme teilt er die Arbeiter ein. Die ersten Männer lösen sich aus der Gruppe und beginnen, mit Ketten und Seilen den vom Bug abgetrennten Teil aus dem schlammigen Wasser zu ziehen; viele von ihnen barfuss.

Auch der Namenlose wird vom Rotköpfigen aufgerufen. Zu viert folgen sie einer rostigen Kette mit Gliedern so gross wie ein menschlicher Torso, die das halb zerlegte Schiff vor dem Versinken bewahrt. Über eine kleine Leiter gelangen sie ins Innere des Wracks und ziehen rote und blaue Schläuche mit hinein.

Im Innern dreht er einen Schweissbrenner auf, und eine farblose Flamme sticht aus dem meterlangen Stab. Bläulich schimmerndes Licht legt sich auf sein Gesicht, als er beginnt, an vorgezeichneten Stellen den dicken Schiffsstahl auseinanderzuschneiden. Nur ein Lappen, den er sich um Mund und Nase gebunden hat, dient ihm als Schutz gegen den giftigen Qualm.

Das Zischen des Schneidbrenners ist zu hören, während die grelle Flamme lange und groteske Schatten an die verrosteten Wände wirft. Dann und wann erreichen ihn Gesprächsfetzen von anderen Arbeitern, die von Enttäuschung und Ungerechtigkeit handeln. Er aber bleibt stumm, denn es ändert nichts daran, dass sie alle dem Tanz des Schicksals wehrlos ausgeliefert sind.

Plötzlich ertönt ein lauter Knall, gefolgt von einem markerschütternden Grollen, das sehr schnell näherkommt. Hat einer der Schweisser eine Gasleitung übersehen? Aber diesen Gedanken kann er gar nicht mehr zu Ende denken, denn die Druckwelle der Explosion erfasst ihn. Hinter ihm reisst ein Teil der Schiffswand auf, und der Namenlose wird aus dem stählernen Inneren katapultiert. Er fällt in die Tiefe, ohne sich festhalten zu wollen. Liegt Trauer oder Erleichterung auf seinem Gesicht? Man kann es nicht sagen, denn sogleich versinkt er in den stinkenden Fluten.

 

*****

 

Res Hartmeier sitzt auf seinem Hochlehner und schaut von oben über die Stadt.

«Dieser eingebildete Emporkömmling wagt es tatsächlich!» Er streckt einen Arm aus und beginnt, mit den Fingern auf die schwere Tischplatte zu trommeln.

«Ich bin der grosse Mann in Shiny City», zischen seine Worte durch den leeren Raum. Aber weder Erhabenheit noch Grösse ist in seiner Person heute zu sehen. Seine sonst charismatische und gewinnende Art ist verschwunden, als hätten seine malmenden Kliefer sie weggebissen.

Gnade denen, die sich mit ihm anlegen! Das wissen Konkurrenten wie Kollegen zugleich. Alle kennen Res Hartmeier als harten Hund, unnachgiebig bis zur Sturheit. Was er sich vorgenommen hat, kämpft er mit aller Härte durch. Ob Immobilien, Rohstoffe, Restaurants, Produktionsbetriebe oder Finanzgeschäfte – überall mischt er mit, um möglichst fette Beute zu machen.

«Und dann noch einer dieser verdammten zugezogenen Neureichen.» Seine Stimme war leise, aber schmälert die Wut keineswegs. «Wegen dieser Idioten geht noch die ganze Stadt zugrunde.»

Die Nachricht von heute Morgen verstimmt ihn zusehends. Aber seine Devise ist klar: Zeige niemals Angst, schon gar keine Schwäche, das wird sofort ausgenutzt. Wenn du angegriffen wirst, stelle dich frontal dem Feind. Und heute wird Res Hartmeier angegriffen. Nicht etwa körperlich, auch will ihm keiner eines seiner vielen Geschäfte streitig machen, nein, viel schlimmer: Res Hartmeier fühlt sich in seiner Ehre angegriffen. Höchstgrad der Demütigung überhaupt.

Ein Schnauben geht durch den Raum, dann ballt er die Faust und knallt sie auf den Tisch. «Frau Weber!», ruft er in seine Telefonstation und drückt dabei den roten Knopf.

«Ja», meldet sich sofort eine junge Frauenstimme.

«Glaubt dieser Bastard wirklich, er könnte die grösste Jacht im Hafen liegen haben?»

«Ähm … Was?»

«Bestellen Sie die neue Jacht!»

«Äh … ja.» Mit etwas Verzögerung fügte sie noch hinzu: «Und … was machen Sie mit Ihrer alten?»

 

«Was?» Seine Stimme wird schneidend wie Stahl. «Mit meiner alten Jacht», kurz holt Res Hartmeier Luft, «lassen Sie sie verschrotten.»


 

felipe vasQues  -  februar 2021

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